Grosses Vorbild Grossmünster

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In der Kirche Kurzrickenbach arbeiten seit Oktober fünzehn Studierende der Konstanzer Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung an Ideen zur neuen Ausgestaltung des Innenraums. Dabei helfen den werdenden Architekten und Architektinnen nicht nur Professorin Myriam Gautschi und Angehörige von Kirchgemeinde und Open Place, sondern auch Experten von aussen. In dieser Funktion war Pfarrer Christoph Sigrist vom Grossmünster in Zürich in Kurzrickenbach zu Gast. Er hat seine Habilitation zur Umnutzung von Kirchen geschrieben, vor allem aber hat er 35 Jahre Erfahrung: «Vor zwanzig Jahren hatten wir hunderttausend Besucher im Grossmünster, inzwischen zählt unsere elektronische Schranke 678.000 Eintritte pro Jahr», erzählt er. «Natürlich sind das nicht alles Gottesdienstbesucher. Aber ich möchte nicht unterscheiden zwischen Pilgern und Touristen.»
Inka Grabowsky,
Kein Kirchenraum ohne Wirkung
Jeder Mensch, der ein Gotteshaus betrete, spüre den sakralen Raum, argumentiert der Theologe und Diakonie-Wissenschaftler. Die Höhe der Decke, das Licht und das Material sendeten eine eindeutige Botschaft. Dass es Ausnahmen gibt, bemerkt Pfarrer Sigrist sofort. Ein Student im kühlen Kirchenraum hat eine Kappe auf dem Kopf. «In einem Dom oder einer Kathedrale hätten Sie sie abgenommen», sagt er mit einem Lächeln. «Dort schmeckt es nach Sakralität – anders als in diesem Raum hier.» Doch jede Kirche sei als solche zu erkennen. «Das ist wichtig, wenn Sie später als Architekten arbeiten: Sie müssen nicht nur Traditionen, sondern insbesondere das Verhältnis von Mensch und Raum beachten.»

Sakralität verwandelt Menschen
Er selbst habe das Grossmünster einmal für eine Modenschau zur Verfügung gestellt, erzählt der Pfarrer. «Design-Studierende sollten ordentlich Aufmerksamkeit für ihre Abschlussarbeit bekommen. Das hat funktioniert. Aber auf der anderen Seite waren die Zuschauer auch tief beeindruckt. Es gab Ergriffenheit bis hin zu Tränen in den Augen. Kirchenräume haben das Potential, Verwandlungskraft zu entwickeln.»

Die Nutzung verschiebt sich
Die Kirchgemeinden müssten damit umgehen lernen, dass die Feier des Gottesdiensts in den Augen den Menschen nicht mehr ihre zentralste Aufgabe sei. «Die Nutzungsverschiebung bei den Kirchengebäuden ist eklatant. Ein Architekt muss heute einen interreligiösen Gebetsraum planen. Ins Grossmünster kommen freitags Muslime, um zu beten. In meinen Gottesdiensten sind gelegentlich Imame zu Gast, die predigen. Kurz: es gibt eine interreligiöse Übersteuerung des christlich gedachten Sakralraums.» Multifunktionalität sei das Gebot der Stunde. Zu dem Zweck müsse man sich - wo möglich - von den Kirchenbänken verabschieden.

Der Schutzraum bleibt
Einen besonderen Schub in dieser Entwicklung hat Pfarrer Sigrist in den vergangenen vier Jahren beobachtet. Aus Prinzip habe er die Kirche auch in der Pandemie nie geschlossen. «Sie holte Menschen aus der Isolation des Lockdowns.» Zu Beginn des Ukrainekriegs gab es hier ein interreligiöses Gebet. Seitdem träfen sich im Grossmünster die Geflüchteten. «Und am Montag nach der Fusion von CS und UBS kamen Banker. Sie sind nicht plötzlich fromm geworden, aber sie fühlten sich hilflos. Der Schutz, den der Kirchenraum ihnen bieten konnte, half.»

Postreligiöse Transformation
«Für mich als junger reformierter Theologe war Religiosität so trocken wie ein Knäckebrot», so der 60-Jährige. «Die Praxis lehrte mich anderes.» Die Transformationssehnsüchte der Menschen müssten bedient werden. «Deshalb gibt es bei uns einen Kerzenständer, obwohl das Anzünden einer Kerze zum Gebet eher als katholische Tradition gilt. Seit beim Tod von Lady Di weltweit Kerzen zum Gedenken entzündet wurden, ist die Kerze global ein Symbol säkularer Religiosität geworden.»
Ein Kerzenständer, ein Augenmerk auf den Eingang zur Kirche und Rücksicht auf die Gedächtnis- und Gewissensfunktion des Kirchgebäudes – all das legt der Pfarrer den Architektur-Studierenden ans Herz. Sie werden seinen Besuch demnächst in Zürich erwidern und sich im Grossmünster vom vielfältig nutzbaren Kirchenraum überzeugen. Was daraus an Ideen für die Kirche in Kurzrickenbach entstehen, wird im Frühjahr nach Semesterende öffentlich gezeigt.

Siehe auch:
» https://www.christoph-sigrist.ch
» https://www.htwg-konstanz.de
Pfarrer Christoph Sigrist im Open Place
21.11.2023
3 Bilder
Fotograf/-in
Benjamin Arntzen